Das Texel-Projekt - Studio: Bigger than life (Kurt Grunow / Mark-Steffen Bremer)

1983 befördert ein Fischtrawler vor der niederländischen Insel Texel mehrere Metallfässer an die Wasser-oberfläche, in denen sich sowjetische Celluloidfilme befinden. Ein Strandgutsammler (niederl. „Jütter“) reicht die Behälter an das Seefahrtmuseum der Insel weiter, wo wir Jahre später auf den ungewöhnlichen Fund aufmerksam werden. Die Recherche nach der Herkunft und dem Inhalt dieser Filme, sowie den Zusammenhängen ihrer Auffindung lässt ein verzweigtes, assoziations- und bilderreiches Projekt entstehen. Soziale Kontexte auf der Nordseeinsel spielen dabei ebenso eine Rolle wie Kunst, Krieg und Kino, Aspekte der Filmchemie und die Konservierung von Erinnerung. Als intermediäres Kunstprojekt, in dem Fotografie, Video, Malerei, Performance und Text in enger Verbindung standen, wurde das Texel-Projekt bereits an zahlreichen Orten verschiedenartig präsentiert. 2005 fassten wir den derzeitigen Stand unserer Arbeiten in einem Katalogbuch zusammen.

Filmtonnen

Diese Stahlbehälter wurden 1983 vor der niederländischen Insel Texel aus dem Meer gefischt. Sie stammen aus Sowjetrussland und sind angefüllt mit 35mm-Kinofilmen.

Cor Ellen

Cor Ellen ist einer der profiliertesten Strandgutsammler und Geschichtenerzähler auf der Insel Texel, die hier „Jütter“ genannt werden. Er nahm die Filmtonnen 1983 von der Besatzung eines Fischtrawlers entgegen, der sie als „Beifang“ in seinem Schleppnetz vom Meeresgrund aufgefischt hatte.

Wunderkammern

Es gibt zahlreiche Strandgutkollektionen auf der Insel Texel. Große Mengen verschiedenartigster Objekte, die im Laufe von Jahrzehnten aus dem Meer geborgen oder am Strand aufgelesen wurden, werden in diesen Sammlungen kunstvoll inszeniert ausgestellt. Hier in der Strandgutsammlung des Maritiem en Jutters Museums in Oudeschild/Texel waren uns die mit kyrillischen Buchstaben beschrifteten Filmtonnen aufgefallen.

Filmdose

Bei den aufgefundenen Filmrollen aus dem Meer handelt es sich um 35mm-Kinoformate. Teile von folgenden Filmen waren in den Metalltonnen zu finden:

PRESTUPLENIYE Y NAKAZANIYE (1969) dt. „Verbrechen und Strafe“
von Lev Kulidzhanov.
Streng literaturgetreue Verfilmung des Dostojewski-Romans „Schuld und Sühne“.

SVEZDA PLENITELNOGO SCHASTYA (1975) dt. „Stern des verheißungsvollen Glücks“
von Vladimir Motyl.
Kostümdrama über den Petersburger Dekabristenaufstand von 1825.

KOT Y MESHKE (1978) dt. „Kater im Sack“
von Grigorij Tschtschukin.
Komödie über eine Gruppe übermütiger jugendlicher Städter, die in einem Dorf auf ein gutes Kollektiv treffen und geläutert nachhause zurückkehren.

Filmwaschung

In Handarbeit reinigten wir einige Rollen der aufgefundenen Filme Meter für Meter von Meerwasser, Sand und Schmutz.

Versuchsanordnung

Beim 16. Stuttgarter Filmwinter (Festival For Expanded Media) unternahmen wir vor Publikum in einer experimentellen Vorführsituation einen Projektionsversuch der gereinigten Filme. Wir richteten im Kino hierzu eine Video-Liveübertragung vom Projektor im Projektionsraum zu einem neben der Leinwand im Kino platzierten Videomonitor ein. Bei den zu erwartenden Filmunterbrechungen würde das Publikum auf dem Monitor den Stand der Bemühungen des Filmvorführers mitverfolgen können, den gerissenen oder anderweitig unterbrochenen Film wieder zum Laufen zu bringen.
Filmvorführversuch, Int. Filmwinter, Stuttgart 2003

Projektionsversuch

Die projizierten Filme aus dem Meer wiesen passagenweise intensive Farbveränderungen auf. Doch entgegen allen Erwartungen blieben während des Projektionsversuches spektakuläre, technisch bedingte Unterbrechungen aus. Paradoxerweise musste der Kinoabend daher nicht aufgrund technischer Pannen (auf die wir ja eingerichtet waren) als misslungen angesehen werden, sondern aufgrund des geringen Unterhaltungswertes, den die reibungslos projizierten Filme aus dem Meer boten. Auch die während der Vorführung eingesetzte Synchronübersetzerin vermochte hieran nichts zu ändern.
Filmvorführversuch, Int. Filmwinter, Stuttgart 2003